„Der Hitler, der wird das schon machen"
Stuttgarter Nachrichten vom 25.8.2010
Vor genau 70 Jahren zerstören britische Bomber beim ersten Luftangriff auf Stuttgart Häuser in Gaisburg, Wangen und Untertürkheim. 18 britische Flieger, eine Stunde Bombardement, vier Tote, in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1940, vor siebzig Jahren und nur ein Jahr nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, fielen die ersten Bomben auf die Landeshauptstadt.
Von Anna Hunger
STUTTGART. Eine Nacht von Samstag auf Sonntag. Um kurz nach halb eins drei lange Töne mit Unterbrechung. Voralarm. Dann die Sirene - ein Heulen, rauf, runter, rauf, runter. Walter Schlenker und das Madchen, das einmal seine Frau werden sollte, rennen. Walter Schlenker hinunter in den Stollen unterm Haus in Bad Cannstatt. seine Zukünftige einen Kilometer weit in den nächsten Bunker - mit einem Leiterwagen und dem nötigsten Hab und Gut. „Wir sind einfach losgerannt", sagt sie. Durch die Nacht, die schwärzer ist als andere Nachte, weil alle Lichter aus sind, alles verdunkelt ist, um den Bombern kein Ziel zu liefern.
Walter Schlenker ist heute 83 Jahre alt und lebt in Sindelfingen An das Heulen der Sirene erinnert er sich genau. „Das werde ich nie vergessen" sagt er. Im Bunker gab es Brotsuppe, sagt seine Frau. Spater noch hat die Mutter manchmal welche gekocht. „Das war immer lecker." Sie lacht. Dann weint sie, weil sie sich daran erinnert, wie ein guter Freund im Nachbarkeller bei einem Bombenangriff starb. Durch die Druckwelle. Er saß tot auf einer Bank. „Das war schlimm." Im Kindergarten gab es immer Brezeln zu Hitlers Geburtstag Die Kinder wurden darauf getrimmt, den Hitler gut zu finden.
1940 war Walter Schlenker 13 Jahre alt und bei der Hitlerjugend. Das dürfe man nicht falsch verstehen, sagt er. aber das war eine gute Zeit. Da hat man Spiele gemacht, Abenteuer erlebt und war mit Gleichaltrigen zusammen. „Weg von der Straße", sagt seine Frau. „Da war man stolz dazuzugehören."
Bomben auf Gaisburg: Nach dem Angriff, bei dem vier Menschen starben, begutachten Betroffene
in der Hornbergstraße die Schäden - Foto:Stadtarchiv Stuttgart
Am 25. August 1940 um 0.43 Uhr fallen die ersten Bomben auf Stuttgart. Es ist eine sternenklare Nacht, als 18 britische Bomber über Stuttgart hinwegdonnern. Die Bomben sind für die Daimler-Motorenwerke bestimmt, treffen aber Wangen, Untertürkheim und Gaisburg. das im Verlauf des Krieges immer wieder bombardiert wird. „Gaisburg war als Ziel interessant", sagt der Lokalhistorikcr Elmar Blessing, der im September für die Ökumene Gaisburg eine Ausstellung zum ersten Bombenangriff auf Stuttgart plant. „Da war der Güterbahnhof als Umschlagplatz. die Gaswerke und der Großmarkt." Warum die Briten 1940 die Daimler-Werke nicht getroffen haben, ist ungeklärt. „Vielleicht waren die Piloten nervös", vermutete Blessing Eine Stunde lang versuchen die britischen Flieger, die Werke zu treffen, dann drehen sie ab.
Walter Sehlenker ist drei Jahre später als Luftwaffenhelfer auf einem der Daimler-Gebäude postiert, das die Briten bei ihrem Luftangriff 1940 nicht treffen. Es gibt Fotos, auf denen der Junge im Unterhemd mit seinen Kameraden neben einer Flakbatterie kniet und breit grinst Heute, sagt Walter Schlenker, wisse man naturlich, wie scheußlich das damals war, wie scheußlich der Hitler war, aber damals, da hat man ihm vertraut. Bis 1940, sagt Walter Schlenker, habe man in Stuttgart kaum etwas vom Kneg gespürt.
Die Bomben von 1940 schlagen ein im Kanonenweg, in der Hombergstraße, zerstören die Gaststatte zur Krone in Gaisburg. Der Dachstuhl geborsten, ohne Ziegel thront er wie das Skelett eines großen Tieres auf einem Haufen aus Schutt, gesplitterten Fensterläden, Gardinen-Fetzen und zerborstenen Möbelstücken. Ein Ehepaar wird durch Bombensplitter getötet, weil es sich im Parterre der Gaststätte aufhält, anstatt im Keller. Insgesamt kommen vier Menschen bei dem Angriff ums Leben, einer verbrennt, als infolge des Bombardements ein Feuer ausbricht. Irgendwo in einem Nachbarhaus ist ein junges Paar dabei, Scherben aus den Betten zu sammeln, um wenigstens die verbliebenen Stunden der Nacht schlafen zu können.
Mitten in Gaisburg - ein Bombenkrater. Schon in der Nacht kommen Schaulustige aus ganz Stuttgart. Die Schutthügel und die zerstörten Häuser üben eine Faszination aus.
Mehr noch kommen am Morgen. „Da haben richtige Völkerwanderungen eingesetzt", sagt Elmar Blessing. Die Gaststätte Pflug macht den Umsatz des Jahrhunderts, weil dort alle einkehren, die sich das Schauspiel anschauen.
Auch Walter Schlenker und seine zukünftige Frau gehörten zu denen, die nach Gaisburg pilgern. „Das war 'ne Sensation", erinnert sich Walter Schlenker. Aufregend „Mensch, endlich passiert mal was Spannendes", dachte er damals. Das war großes Kino, das war Abenteuer, faszinierend für einen 13-Jährigen. Damals, erinnert sich Schlenker, habe er sich nur gefragt, wie so etwas passieren kann. Wie es sein kann, dass fremde Bomber Deutschland angreifen. ..Dass wir die Unterlegenen sein könnten, diesen Gedanken gab's damals bei uns nicht." Nicht nach diesem Angriff, auch nicht nach den kommenden. Erst ab 1943, da wurde es schlimm, erinnert er sich. Als die Butter rationiert wurde. „Da haben wir gemerkt, dass der Krieg doch nicht so toll ist." Aber 1940 habe es diesen Gedanken noch nicht gegeben. „Wir hatten ja Vertrauen. Der Hitler, dachten wir. der wird das schon machen."
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Daimler Werk Untertürkheim im 2.Weltkrieg:
Wieder Kriegswirtschaft und ein Ende in völliger Zerstörung
Stuttgarter Zeitung, 21.06.2004
Der Beginn des Zweiten Weltkriegs lässt, wie schon beim Ersten Weltkrieg, alle weiteren Planungen friedlicher Entwicklung Makulatur werden. Die Umstellung auf Kriegsproduktion muss fast schlagartig erfolgen. Ende 1939 gibt es in Untertürkheim keine zivile Fahrzeugproduktion mehr. Im Herbst 1942 wird der Fahrzeugbau völlig eingestellt.
Das Werk hat auch wie im Ersten Weltkrieg einen erheblichen Ausfall an Personal zu verkraften bei gleichzeitig steigendem Bedarf an Flugmotoren und Ersatzteilen. Vom September 1939 bis zur Jahreswende sinkt die Belegschaft von mehr als 11 800 auf knapp 8400 Menschen. Zwei Jahre später sind bereits Arbeiter und Arbeiterinnen aus 22 Nationen, die teils freiwillig, im Verlaufe des Krieges aber in immer stärkerem Maße aus den besetzten Gebieten von der deutschen Wehrmachtsführung als Zwangsarbeiter nach Untertürkheim geschickt werden.
Die Wochenarbeitszeit beträgt 52 Stunden; Überstunden werden mit bis zu 800 Mark pro Monat abgegolten. Ansonsten herrscht Lohnstopp im Werk. Einmal pro Woche ist Arbeitsschluss um 17 Uhr, ¸¸damit die Gefolgschaft ihre Einkäufe erledigen kann''. Der Mangel an Konstrukteuren und Technikern wird offiziell mit 300 beziffert.
Das erhebliche Hochfahren der Flugmotorenfertigung, -reparatur und -ersatzteilversorgung verlangt nach immer neuen Flächen. Weitere Grundstücke müssen von der Stadt Stuttgart erworben werden, die teilweise sogar jenseits des Neckars liegen und durch eine Brücke erschlossen werden. Auch eine Ausdehnung auf das Wasengelände folgt. Das Werk beantragt die Sperrung der Mercedesstraße für den Durchgangsverkehr, es wird aber noch zwei Jahrzehnte dauern, bis es soweit ist.
Im Laufe des Jahres 1943 wird die Bedrohung durch Luftangriffe für die Werke immer größer. Mannheim und Berlin erleiden im April und August die ersten Bombardements. Am 26. November ist Untertürkheim erstmals Ziel, dann folgen zwei mittelschwere Angriffe im Februar und März 1944. Am 5. September 1944 folgt der letzte Schlag und vernichtet Untertürkheim endgültig. Dank der im Werk vorhandenen Luftschutzkeller bleibt der Verlust an Menschenleben bei den Angriffen auf 73 beschränkt.
In diesem Schicksalsjahr freilich ist fast die gesamte Produktion und auch große Teile der Verwaltung schon an 19 verschiedene Orte, in Tunnels und unterirdische Werkstätten, ausgelagert. Ein gewaltiger logistischer Aufwand: Dafür galt es, Menschen, Maschinen, Werkzeuge und Nachschubmaterial an die jeweiligen Stellen - insgesamt 400 - zu bringen.
Eine immer dünner werdende Personaldecke, Materialknappheit, Transportprobleme und andere Schwierigkeiten stehen der Erfüllung der verlangten Produktionsziele im Wege. Im Spätsommer 1944 zeichnet sich die Diskrepanz zwischen verlangter Leistung und Können immer deutlicher ab; die Industrie insgesamt geht langsam in die Knie. Untertürkheim streicht alle Investitionen und langfristigen Projekte. Nur für die Beseitigung der Bombenschäden stehen noch Mittel zur Verfügung.
Das unvermeidliche Ende für Untertürkheim und seine ausgelagerten Dependancen kommt am 20. April 1945. Alle Maschinen stehen still, und im Werk gehen die Lichter aus. Einen Wiederaufbau kann sich zu diesem Zeitpunkt niemand so recht vorstellen.
Fotos: Archiv DaimlerChrysler
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