VON MATHIAS KUHN - Untertürkheimer Zeitung vom 8.11.2004
1904 wurde die Genossenschaftskelter als Europas modernste Kelter eingeweiht. „Sie ist heute so jung wie nie", meint Weinmanufaktur-Vorsitzender Bernd Munk. Es mag Zufall gewesen sein, dass das Topas-Trio den Festakt im festlich dekorierten Saal mit Melodien aus Mozarts „Figaros Hochzeit" eröffnete. Bernd Munk nahm den Fingerzeig in seiner Begrüßungsrede jedoch gleich auf. Zur mehr als hundertjährigen Geschichte der Weingärtnergenossenschaft (WG) Untertürkheim hat die Weinmanufaktur vergangene Woche schließlich ein neues Kapitel aufgeschlagen. „Wir haben uns mit der WG Obertürkheim zusammengeschlossen", schnitt Munk die jüngste „Weinehe" an. Misstöne scheinen in dieser Partnerschaft ausgeschlossen. Die Natur bevorzuge Obertürkheims Weinberge so sehr und beide Weingärtnergenossenschaften hätten sich die Qualitätssteigerung so dick auf die Fahnen geschrieben, dass „wir voneinander profitieren werden", ist der Weinmanufaktur-Vorsitzen-de überzeugt. „Qualität geht bei uns vor Quantität und unverwechselbare Weine vor Menge. Aus Untertürkheims Kelter werden künftig noch mehr preisgekrönte Weine kommen", versprach er.
Bereits vor 100 Jahren stand die mächtige Kelter in der heutigen Strümpfelbacher Straße im Scheinwerferlicht. Sie galt als Europas größte und modernste Kelteranlage, was Eberhard Hahn mit Zeitungszitaten damaliger Zeit belegte. In einem mit historischen Bildern illustrierten Vortrag ließ der Bürgervereinsvorsitzende und „wandelndes Ortschroniklexikon" die Jahrhunderte alte Weinbaugeschichte Untertürkheims Revue passieren. Von Klöstern und Mönchen geprägt, dem Haus Württemberg und besonders von König Wilhelm I gefördert, galten Untertürkheims Wengerter bereits im 18. Jahrhundert als innovative Weinmacher. So pflanzten sie 1822 erste Riesling-Reben an und schlossen sich unter der Initiative des weit blickenden Schultheiß Eduard Fiechtner 1887 zur Weingärtnergesellschaft Untertürkheim zusammen - dem Vorläufer der 1907 ins Leben gerufenen Weingärtnergenossenschaft.
Damals kelterten Untertürkheims Wengerter bereits in ihrer neuen Kelter. Der visionäre Fiechtner überzeugte Wengerter und Stadthonoratoren, dass es der Traubenqualität förderlich sei, wenn die geernteten Trauben nicht stundenlang auf der Straße stehen, sondern in einer neuen Kelter verarbeitetet werden.
Zwischen 1902 und 1904 erstellte Ortsbaumeister Julius Lusser den imposante Backsteinbau an der damaligen Bachstraße.
Das 330 000 Goldmark teure Gebäude war Europas erstes Stahlbetonwerk. Sie besaß eine Hängebahn zur Beförderung der Maische, war mit sieben hydraulischen Pressen ausgestattet und Ventilatoren sorgen für gute Luft.
„Weinkenner aus dem ganzen Land bestaunten Europas modernste Kelter", berichtet Hahn. Zwar sei das Gebäude mit der Eingemeindung Untertürkheims im Jahr 1905 in den Besitz der Stadt Stuttgart übergegangen, aber 1996 kauften Untertürkheims Genossenschaftswengerter ihre denkmalgeschützte Stube wieder zurück.
Der SDR hat im herrlichen Gewölbekeller die Fernsehsendung „Eugen" mit Walter Schultheiß aufgezeichnet, preisgekrönte Weine gedeihen in den Tanks und ihr einmaliger Charakter erinnert die Weinmacher an die Tugenden, die Untertürkheims Weinmacher seit einem Jahrhundert auszeichnen: Tradition, Fortschritt, Leidenschaft und Innovation.