Ehrfürchtig sind die Landeskinder früher auf den Württemberg gepilgert: Dort stand die Burg jenes edlen Geschlechtes, das der Hälfte des Landes den Namen gegeben hat. Heute dagegen besteigen viele Menschen den Berg wegen der Aussicht - und nicht wegen der Historie.
Von Thomas Faltin
Zugegeben, es ist ein wenig übertrieben, beim Rotenberg von einer Besteigung zu sprechen: Denn die Fahrstraße führt, von Uhlbach kommend, bis knapp unter den Gipfel - an schönen Sommertagen ist die Straße bis hinauf zum verriegelten Gatter mit Vehikeln gesäumt. Einfacher lässt sich ein Berg kaum noch erobern.
Den Automobilisten aber entgeht das Wesentliche. Denn ein Berg ist wie eine Symphonie: Wer sich nur das Finale anhört, lernt deren wahre Schönheit, mit all ihren Versprechungen und dem allmählichen Crescendo der Spannung, nie kennen. Unten also, am Neckar, hebt der Württemberg an.
Von dort aus ist der Gipfel gar nicht zu sehen, die 1819 erbaute Grabkapelle versteckt sich hinter den Hügeln. Der Spaziergang, bei dem 200 Höhenmeter zu überwinden sind, führt von Obertürkheim aus steil hinauf durch die Weinberge. Größer könnten die Kontraste kaum sein: Unten schlägt dem Wanderer noch der Lärm und die graue Trostlosigkeit des Stuttgarter Hafens entgegen, nun umschließt ihn plötzlich die pure Idylle. In der Tat sind die Hänge des Württemberg, wo sie nicht mit Reben bepflanzt ist, rare Rückzugsgebiete der großstadtgeschädigten Stuttgarter: Hier haben sie ihre Gärtle und Stückle, hier hegen und pflegen sie am Wochenende ihre Radieschen und ihre Seele. Kaum zu glauben, dass man sich noch immer auf Stuttgarter Gemarkung befindet, so ruhig und grün wird einem plötzlich zu Mute.
Wie bei vielen Bergen beginnt dann, sobald man sich dem Gipfel (410 Meter über dem Meeresspiegel) nähert, der Rummel. Der Württemberg - Rotenberg hieß er früher, bis König Wilhelm II. im Jahr 1907 per Dekret den Namen Württemberg zum einzig richtigen erklärte - ist der Stuttgarter liebster Vorzeigeberg: Hierher schleppen sie am Sonntag nach dem Kaffee den Schwiegersohn aus Brunsbüttel und die Tante aus Connecticut. Denn wo sonst kann man besser die Schönheit Stuttgarts vorführen, und wo sonst steht man auf so geschichtsträchtigem Boden? Der Blick schweift über die mit Reben bewachsenen Hänge des Neckartales, verfolgt das silberne Band des Flusses und verliert sich schließlich am blauen Horizont der Schwäbischen Alb. "Really beautiful", entfährt es da der Tante aus Amerika - und der Stuttgarter ist's zufrieden.
Die letzten Meter steigt man einen lauschigen Schotterweg bergan, der von den Zweigen einer großen Bergkiefer überschattet wird. An sonnigen Tagen ergreift den Wanderer hier ein südliches Gefühl: Der Weg mit seinem braunen, vor dem Abgrund schützenden Holzzaun könnte auch auf einen Hügel Kretas hinaufführen. Ganz abwegig ist der Vergleich nicht, denn oben erwartet den Besucher ein antiker Tempel: Giovanni Salucci hat die Grabkapelle für Königin Katharina als Rotunde mit hoher Kuppel und drei Portiken, die von ionischen Säulen getragen werden, erbaut. Salucci wollte im Übrigen ein weitaus pompöseres Grabmal für die Königin bauen. Doch König WilhelmI. schaute auf den Pfennig, und so durfte der Florentiner Architekt nur eine Sparausführung für 195000 Gulden realisieren. Heute ruhen in der Kapelle der König, seine Königin und ihre gemeinsame Tochter, die Prinzessin Marie. So wurde der Württemberg, der einst die Wiege des Geschlechtes war, zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch zur Grablege.
Drei Burgen standen einst auf dem Berg, die älteste wurde im Jahr 1083 zum ersten Mal erwähnt, die dritte zerfiel und wurde 1819 abgetragen, um Platz zu schaffen für die Grabkapelle. Nichts gegen die Rotunde, aber wäre sie nicht errichtet worden, hätten wir Stuttgarter jetzt auf dem Württemberg noch immer eine romantische Ruine stehen. Und die Japaner würden, zwischen Heidelberg und Hofbräuhaus, vielleicht kurz vom Neckartal hinauffahren und respektvoll zwischen den alten Steinen umherwandeln. So aber kennt am Fujijama leider niemand den Württemberg.
Bisher erschienen: "Zum Radeln taugt Stuttgart nicht, dazu ist es zu gebirgig", 2. August; Unterm Gipfel blüht die Wildnis - und der Verkehr summt, 4. August.