UZ 19.5.2015 - Familientreffen zu Ehren des Technikpioniers
UNTERTüRKHEIM: Nachfahren von Wilhelm Wunder wandeln auf den Spuren des Visionärs in Sachen Stromerzeugung
(mk) - In einigen Familien haben mehrtägige
Verwandtschaftstreffen bei Geburtstagen oder zu Jubiläen Tradition - die
Nachfahren der Familie Wunder begeben sich jedes Jahr auf die Spur
eines mehr oder weniger interessanten Vorfahrens. „In unserer Familie
gab‘s bekannte Pfarrer, Künstler, Wissenschaftler. So haben wir bereits
viele Städte in Deutschland besucht“, erzählt Eckart Wunder. Vergangene
Woche machten sie in Untertürkheim Station und besuchten ein
„Wunder“-Werk: das Wasserkraftwerk am Karl-Benz-Platz. „Wilhelm Wunder
hat es zwar nicht erbaut, aber während seiner Zeit als Leiter der
Elektrizitätswerke Stuttgart ausgebaut“, sagt Enkel Eckart Wunder, der
die Familientreffen organisiert. Oft kommend dabei mehrere Dutzend
Verwandte aus allen Teilen der Welt.
Erster Programmpunkt am Freitagnachmittag war
ein zweistündiger Rundgang durch das Wasserkraftwerk am Neckarkanal.
„Das erste kommunale Kraftwerk in dieser Größe, das die damals
unabhängige Gemeinde Untertürkheim erbaute“, erklärte die EnBW die
historische Bedeutung des Kraftwerks. Der dort erzeugte Strom war auch
für Gottlieb Daimler ein Argument, sein Stammwerk auf Untertürkheimer
Gemarkung anzusiedeln. Historisch war es auch für Eckard Wunder, seine
Schwestern und Cousinen. Sie wandelten auch auf den Spuren ihres
Großvaters. „Als Leiter der Elektrizitätswerke in Stuttgart hatte er in
Untertürkheim seinen Hauptstandort“, erklärte Hellmut Gebauer. Der Mann
einer Enkelin von Wilhelm Wunder hat vor wenigen Jahren eine Biografie
über den Vordenker in Sachen Elektrizität aber auch den
Bergsteiger-Pionier geschrieben.
Wilhelm Wunder war der Leiter der E-Werke in Stuttgart. Archivfoto: Wunder
Wilhelm Wunder wurde 1874 in Lauf bei Nürnberg
geboren. Er studierte an der Technischen Universität in München, wurde
Vorstand der Elektrotechnischen Abteilung des Gewerbemuseums in Nürnberg
und wurde 1906 zum Direktor des städtischen Elektrizitätswerks Erfurt
berufen. Er baute die Maschinenleistungen aus und vermehrte damit seinen
Ruf als Pionier in Sachen Elektrizität. „Stuttgarts damaliger
Oberbürgermeister reiste 1913 extra nach Erfurt, um meinen Großvater
nach Stuttgart zu holen“, erzählt Eckart Wunder. Von 1913 bis zu seinem
plötzlichen Tod im Jahr 1926 war er der Leiter der Stuttgarter
Elektrizitätswerke. Dank seiner Beharrlichkeit und seiner Weitsicht
baute er die Kraftwerke - vor allem jenes in Münster - aus und
verdreifachte damit die Leistung der Stromerzeugung. „Zudem war er ein
leidenschaftlicher Bergsteiger, der einige Routen in den bayrischen
Alpen als Erster beging“, so Gebauer. Ihm zu Ehren trägt eine Route -
der Anstieg zum Gamskarköpfl - seinen Namen. Doch auch die
Untertürkheimer haben dem Strom-Pionier ein Denkmal gesetzt. Die Brücke
vom Karl-Benz-Platz zum Lindenschulviertel - in Reichweite zum
Wasserkraftwerk - wurde 1996 auf den Namen „Wilhelm-Wunder-Steg“
getauft, nachdem die Haltestelle „Wunderstraße“ durch die Umgestaltung
weggefallen war.
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Bernd Wunder (Autor) - Aus: Württembergische Biographien 1, 303-304
Wilhelm Wunder, als Sohn des Direktors der Nürnberger Ultramarinfabrik in Lauf geboren, verbrachte seit 1880 seine Schulzeit in Nürnberg. Nach dem Studium des Maschinenbaus war er als Assistent am Elektrotechnischen Labor der Technischen Hochschule tätig, wo er sich in die neuen Möglichkeiten dieser Technik einarbeitete. Die Tätigkeit am Bayerischen Gewerbemuseum diente dem Aufbau und der Leitung einer Elektrotechnischen Abteilung. Hauptaufgabe war die Beratung der Kommunen und die Begutachtung bei der Einführung der Elektrizitätsversorgung und der Errichtung von Elektrizitätswerken.
Diese Gutachter- und Beratertätigkeit übte er auch bis zu seinem Tode aus. Daraus ergab sich der naheliegende Übergang in die Praxis und die Übernahme der Leitung des Elektrizitätswerks der 100 000-Einwohnerstadt Erfurt und ab 1913, nach dem Tod des dortigen Direktors, die gleiche Funktion in der Großstadt Stuttgart (300 000 Einwohner). Die 1895 als Aktiengesellschaft gegründeten Städtischen Elektrizitätswerke waren 1902 in städtischen Besitz übergegangen. Wunders Energie galt dem Ausbau der Elektrizitätsversorgung der Landeshauptstadt im regionalen Verbund, insbesondere als er 1917 nach einem Lazarettaufenthalt vom bayrischen Militärdienst beurlaubt wurde. Die sprunghaft steigende Nachfrage nach elektrischer Energie und die technischen Möglichkeiten einer großräumigen Verbundwirtschaft durch Hochspannungsleitungen waren die Voraussetzungen für einen Konzentrationsprozess, in dem die zunächst aktiven Kommunen zwischen den Verstaatlichungstendenzen von Reich und Land sowie den Großkonzernen der Privatwirtschaft erdrückt zu werden drohten.
In Wunders Stuttgarter Berufstätigkeit fällt der Ausbau des Elektrizitätswerkes Münster zu einem Großkraftwerk auf der Basis der Kohleverstromung. Seine Kapazität stieg von 30 Millionen kW 1913 auf 85 Millionen kW 1925/26. Seit 1915 war Münster das größte Kraftwerk im rohstoffarmen Württemberg. In Zusammenarbeit mit dem Technischen Bürgermeister Daniel Sigloch erreichte Wunder nicht nur die Zustimmung des Gemeinderates zu den kontinuierlich steigenden Investitionen, sondern beide waren seit 1913 bemüht, über die Markungsgrenzen der Stadt hinaus Fernleitungen wie die Elektrizitätserzeugung in landesweiten Verbänden und unter Abwehr auswärtiger Konkurrenz in der Hand von Land und Kommunen zu halten. Insbesondere in der 1918/19 gegründeten Württembergischen Landeselektrizitäts-Gesellschaft bzw. AG, an der Stuttgart mit einem Drittel des Kapitals beteiligt war und deren Aufsichtsrat Wunder bis 1926 angehörte, wie auch als Vorsitzender des Verbandes der Württembergischen Elektrizitätswerke (1926) war er in Kommissionen und mit Denkschriften zugunsten eines Zusammenschlusses der Kommunalverbände der Elektrowirtschaft aktiv.
Wunder gehörte mit Sigloch zu der Gruppe von Ingenieuren und Kommunalpolitikern der 1. Stunde, die die Versorgung der Bevölkerung und der heimischen Wirtschaft mit elektrischer Energie weder dem Gewinnstreben der Privatwirtschaft noch einer Verstaatlichung auf Reichsebene überlassen, sondern auf kommunaler Ebene eine bürgernahe Versorgung sicherstellen wollte. Allerdings kam es zu einer landesweiten Zusammenfassung der württembergischen Elektrowirtschaft erst im Dritten Reich 1935 bzw. 1939 und das in der staatlichen Gesellschaft der Elektrizitätsversorgung Schwaben (EVS). Angesichts der geringen Wasserkraft im Lande hatten Wunder und Sigloch auf die Kohleverstromung gesetzt, was aber auch im Ersten Weltkrieg und während der Ruhrbesetzung zu Engpässen führte. Als das Dritte Reich Großraumwirtschaft und Wasserkraftstrom favorisierte, wurde z. B. in einem Gutachten des Reichswirtschaftsministeriums das Großdampfkraftwerk Münster als „typisches Beispiel einer Fehlinvestition“ bezeichnet und seine Stilllegung gefordert.
Wunder war Mitglied in zahlreichen Berufsverbänden, so im württembergischen Bezirk des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) und in dem Württembergischen Elektrotechnischen Verein, dessen Vorsitzender er zeitweilig war. Seine Freizeit widmete Wunder, der seit seinem Studium Mitglied des Akademischen Alpenvereins München war, nach dem Vorbild seines Vaters der Bergsteigerei, wobei ihm in den Tiroler Alpen mehrere Erstbesteigungen bzw. -begehungen gelangen. Im Wilden Kaiser erhielt die Route vom Scharlinger Boden zum Sonneneck nach ihm und seinem Vater die Bezeichnung „Wunderweg“. Streng gegenüber seinen Untergebenen wie gegen sich selbst arbeitete Wunder buchstäblich bis zum letzten Atemzug, als ihn eine Krebserkrankung frühzeitig aus dem Leben riss.